Ich erinnere mich...
Alles begann mit den Sirenen. TV und Rundfunk verkündeten das herannahende Unheil und die Leute eilten nach draußen wie aufgescheuchtes Wild. 'Es ist verloren.' - hieß es. 'Bringt euch in Sicherheit, denn die Bomben werden fallen.'
Und sie fielen auch... Wahnsinn und Entsetzen waren ihre Vorboten auf den Straßen. Ohne Aussicht auf Rettung wurde aus allgemeiner Verzweiflung rasch tobende Raserei und das Tier Mensch offenbarte seine wahre Natur. Kreuz und quer rannten sie umher, kreischten, schlugen, plünderten. Begleitet von dem immerwährenden Geheule des Luftalarms zerschlug der rasende Mob Schaufenster, entzündete Feuer, trotzte jeglicher Vernunft. Der Unordnung folgte bald der Tod und in tausendfacher Gestalt zog er grausam seine Kreise. Die Wehrlosen traf es als Erstes. Achtlos überrannt, aus fahrenden Autos gezerrt und in Panik erschlagen oder in dunklen Ecken ohne Reue geschändet, mussten sie sich ihrem Schicksal beugen, denn keiner achtete mehr auf den anderen. Kinder schrien nach den Eltern, wurden sich selbst überlassen von der Masse mitgerissen oder zu Tode getrampelt. Die Alten und Kranken ließ man einfach zurück, die Schwachen wurden aus dem Weg gestoßen. Jeder war sich selbst der Nächste und für Mitgefühl blieb keine Zeit.
Der Verkehr geriet in Stocken und kam letzten Endes ganz zum Erliegen. An öffentliche Verkehrsmittel war nicht mehr zu denken. Busse und Taxen standen herrenlos im Chaos. Die U-Bahn-Tunnel blieben unbefahren, bevölkert nur noch von jenen, die sich unter Tage ein schnelleres Vorankommen erhofften. Zu den Sirenen und Schreien gesellte sich der unablässliche Chor hupender Fahrzeuge. Es ging weder vor noch zurück. Einsatzkräfte des Militärs traten auf den Plan, bemühten sich um Ordnung, doch es war zwecklos. Die uns gegebene Fähigkeit des rationalen Denkens war ohne Rettung verloren. Evakuierungspläne scheiterten, Fluchttransporte wurden gekapert oder kamen in all dem Gemenge schlichtweg nicht voran. Anarchie errang den endgültigen Sieg, als die ersten Schüsse aus den Gewehren der Soldaten fielen. Es war Öl ins schwelende Feuer. Ein Pandemonium des Unheils, welches nun nicht mehr allzu lange währte...
Als es passierte stand ich auf dem Dach eines zerbeulten Wagens und blickte gen Himmel. Links und rechts ströhmten Menschen vorbei. Sie schrien, fluchten, riefen nach Frau und Kind, von denen sie getrennt worden waren, oder beteten zu einem Gott, der sie schon längst verlassen hatte. In ihrer ewigen Sehnsucht nach dem Leben rannten sie davon, klammerten sich an einen nicht mehr existierenden Funken Hoffnung, während ich nur dastand und beobachtete. Dummköpfe schimpfte ich sie im Geiste, denn nie hätten ihre Füße sie jetzt noch in Sicherheit tragen können. Zu spät. Es war einfach zu spät. In ihren Herzen mussten sie es wissen, es sich eingestehen, doch trotzdem liefen sie, während ich dem Unabwendbaren ins Auge blickte.
Die Erde begann zu beben, als in der Ferne die ersten Einschläge zu hören waren. Es komplettierte die anhaltende Kakophonie der Auslöschung. Ein Wirrwarr aus vielerlei Tönen, die gemeinsam unser aller Vernichtung ankündigten. Riesige Bälle aus Feuer und Rauch schossen empor, formten sich zu gigantischen Pilzen, die selbst die höchsten Gebäude der Stadt übertürmten, als wären sie Kinderspielzeug. Starker Wind kam auf. Eine Bö riss mich mühelos von den Füßen und fegte mich davon. Unbeschreibliche Feuerwalzen peitschten im Windschatten dieser Druckwelle, verbrannten alles auf ihrem Weg zu Asche. Bäume knickten um wie Streichhölzer, tonnenschwere Fahrzeuge schlitterten über den Asphalt und überschlugen sich, Häuser fielen einfach in sich zusammen. Das Ende. Es war so unerbittlich, so unerträglich schön und häßlich zugleich, dass es mir die Sinne raubte. Ich schloss die Augen, doch das gleißende Licht des Infernos fraß sich durch meine Lider, stach mir wie feine Nadeln direkt ins Gehirn. Es war wie ein Blick in das Herz der Hölle. Ein Feuer, so gewaltig, dass nichts und niemand es mehr löschen oder eindämmen konnte. Es würde, so dachte ich, für ewig seine tödlichen Schneisen in die Welt brennen und alles Leben von ihr tilgen. Seine Hitze umgab mich, quälte mich. Jeder Nerv in mir explodierte, bevor sich mein elendiger Leib endlich erbarmte und mich in das friedliche Land des Vergessens schickte.
Und so endete es. Tod. Zerstörung. Ein Zeitalter des Fortschritts - hinfort gewischt an einem einzigen Tag. Jahrhunderte des Wissens, angehäuft in Bibliotheken und Archiven, vergingen unaufhaltsam in den letzten Zuckungen einer sterbenden Welt. Tiere und Pflanzen zerfielen zu Staub. Menschen, alt wie jung, verdampften in einer Orgie atomarer Vernichtung, ausgelöst durch den simplen Druck eines Knopfes. Der Krieg, den wir gefochten hatten - ein Krieg ohne Sieger - fand seinen Zenit in der Auslöschung allen Seins. Alles verschwand. Nur ich... Ich blieb bestehen...
Als ich erwachte, war es finster. Ich wußte nicht, ob Tage, Wochen oder gar Monate verstrichen waren, doch als sich meine Augen wieder öffneten, hatte die Welt ihr Antlitz verändert. Der Himmel war verdunkelt, durchzogen von tiefschwarzen Wolken und ständig zuckenden Blitzen. Der immer wiederkehrende Donner war alles, was an meine Ohren drang. Keine Schreie mehr, keine Sirenen oder Schüsse. Stille... Asche regnete von oben herab und bedeckte das karge Land. Die kläglichen Überbleibsel ehemals hochgejubelter Monumente standen nun in leblosen Ruinen. Ihre Gerippe aus Stahl und Beton loderten ohne Unterlass in den Nachwehen des apokalyptischen Feuers. Drückende Hitze erfüllte die Luft. Sie erschwerte das Atmen, ebenso wie der beißende Qualm, welcher überall in dicken Schwaden in die Höhe zog. Der grauenhafte Anblick dieses Albtraums zerbrach mich. Es marterte meine Seele und überforderte meinen Verstand.
Die Zeit verstrich... Ich versuchte mich zu bewegen, rutschte auf die Knie und krallte meine tauben Finger in die zugrunde gerichtete Erde. Da waren Menschen. Jene, die nicht schnell und leidlos durch das Fegefeuer erlöst, sondern in qualvollen Momenten darin geläutert worden waren. Überall lagen sie verstreut. Bizarre Mahnmale aus einer anderen Zeit. Auf allen Vieren kroch ich weiter, kauerte bald neben einem der verkohlten Körper. Ich streckte die Hand aus, strich beinahe liebevoll über die tote Hülle, doch meine Finger fanden keinen Widerstand und fuhren durch die poröse Haut hindurch, so als wäre sie nur ein Trugbild meiner Fantasie. Das fragile Gebilde löste sich auf. Ein kleines Häufchen Elend blieb zurück, während feine Partikel durch die Luft wirbelten und sich in alle Winde zerstreuten. Trauer überkam mein Gemüt. Ich wollte weinen, brachte jedoch keine Tränen zustande. In diesem Moment wurde mir mein eigenes Schicksal gewahr. Ich sah an mir hinab und erblickte unter rußgeschwärzten Schichten offenliegende Muskeln, Knochen und Sehnen, eingebettet in blankes, verbranntes Fleisch. Ein Griff ins Haar förderte ein paar strohige Büschel zu Tage, die sich von meinem versengten Schädel lösten, als hätten sie dort nie Halt finden können. Die fröhliche Person, die mich im Spiegel oft angelächelt hatte, war Geschichte. Sie lag vergessen unter all den anderen Unglücklichen und zurück blieb nur ein Monster. Eine groteske Mißgestalt, deren Existenz nie vorgesehen war.
Ich sank zusammen und rollte auf den Rücken. Das trostlose Dunkel des Himmels vor Augen, versuchte ich mein Leid in lauter Klage hinfortzuschreien, doch nur ein leises Wispern entkam meiner ausgetrockneten Kehle. Wieso war ich hier? Was hatte ich verbrochen, um diese Strafe zu empfangen? Einsam zurückgelassen und gefangen in einem verrotteten Körper, der doch weiterlebte, obwohl alles an ihm ganz und gar tot war. Zwar empfand ich keinen weltlichen Schmerz, aber eine große Leere erfüllte mein wider alle Regeln pochendes Herz. Irgendwann kämpfte ich mich auf die Füße. Wackelig stand ich da, zauderte. Ich sah das Ergebnis von Fehlern um mich herum, unausweichlich und ohne Möglichkeit der Wiedergutmachung. Ein Ende ohne Neuanfang. Wohin geht man, wenn man vor dem Nichts steht? Wenn man ohne Absicht über das Ende des Lebens hinausgelangt ist und jegliche Ziele und Träume hinter sich gelassen hat?
Ohne eine Antwort auf diese Fragen stapfte ich los...