Fallout: Texas
Die Sonne steht hoch am Himmel, durchstößt jedoch nur schwach den grauen Wolkenvorhang, der blass und kränklich über ihren Köpfen hängt. Sand weht, von einem starken Südwestwind getragen, zwischen ihren Füßen hindurch.
*Die letzten paar Meter bis zum Ziel*, denkt der alte Graham. Sein Kopf schmerzt. Er hat ordentlich was abbekommen, ist aber wie so oft mit einem blauen Auge davon gekommen. Seine beiden menschlichen Begleiter, Claire und Ralf, flankieren ihn. Hund Sam trippelt schwanzwedelnd einige Meter voraus und die massige, voll beladene Brahminkuh Lili schlurft, vom bulligen Ralf an einem Seil geführt, als Nachhut der Abenteurer hinterher. Langsam aber sicher nähern sie sich der Großen Brücke und den hohen Wachtürmen, die den nördlichen Zugang der Stadt markieren.
"Ahhh, Fort Worth… Wieder Zuhause. Endlich! Von der langen Marschiererei tun mir schon die Füße weh." stöhnt Graham, nimmt kurz den Hut ab und reibt sich mit dem Handrücken die schweißgebadete Stirn. Trotz des bewölkten Himmels herrscht eine drückende Hitze.
Ralf bleibt stumm, scheint seinem Gesicht nach zu urteilen die Bemerkung kaum registriert zu haben, Claire jedoch rümpft die Nase. "Nur die Füße Gramps? Was ist mit dem Loch in deinem Kopf?" "Loch?!", kauzt der zähe Haudegen. "Was für ein Loch? Ein mickriger Streifschuss ist das, nichts weiter! Du glaubst doch nicht, dass sich ein Tucker von so einem Wehwehchen beeindrucken lässt?!" Etwas beleidigt stopft sich Graham den Hut wieder auf den Kopf und berührt dabei unabsichtlich die mehr schlecht als recht angelegte Bandage, die seine Schläfe ziert. Ein stechender Schmerz durchfährt ihn sogleich. Der alte Mann verzieht die tränenden Augen zu Schlitzen und zischt leise durch die Zähne. Seine doch nicht ganz so harmlose Wunde am Kopf beginnt wieder dumpf zu hämmern. Claire verzieht die Mundwinkel zu einem Schmunzeln. Sie hört den Laut nur zu genau und malt sich das eben abgelaufene Schauspiel lebhaft aus. Sehen konnte sie es nicht, denn Graham läuft links neben ihr, im toten Winkel ihres blinden Auges. "Naja.", meint sie trocken. "Trotzdem bist du ganz schön weiß angelaufen. Aber wen wundert's… Ein paar Zentimeter weiter Richtung Mitte und das wär's wohl endgültig gewesen..."
Grahams Ohren werden rot und er vergisst für eine Sekunde den Schmerz. Er weiß genau, dass CJ ihn gerne auf diese Art neckt. Zu allem Überfluss hat sie diesmal sogar Recht und er hatte das Ende schon kommen sehen… trotzdem siegt bei solchen Angelegenheiten stets sein Stolz. "Papperlapapp, Mädchen!", schnaubt er. "Der Kerl hat mir nen Streifschuss verpasst und ich hab ihn dafür zum großen Ranger geschossen, wo er jetzt sicherlich schlimmere Strafe erleidet, als ich mit meinem etwas lädierten Kopf. Ich war für eine Sekunde zu vertrauenswürdig und unvorsichtig, zugegeben… wird nicht wieder vorkommen! Verdammt sollen sie sein, diese Drecksbande! Besitzen doch tatsächlich den Nerv, sich als fahrende Händler auszugeben. Und das so nahe an Fort Worth. Das ist an Dreistigkeit kaum mehr zu überbieten! Man sollte mal ein ernstes Wort mit Colonel Hays wechseln, die Patrouillen um die Stadt sind ganz offensichtlich zu lasch!"
Das Gespräch geht noch eine Weile so weiter, doch recht bald erreicht die Gruppe den Fuß der Großen Brücke, wo man sie anhält und kontrolliert, so wie jeden, der die Stadt betreten will. Es kommt zu keinen Problemen und sie überqueren kurz darauf das wuchtige, stählerne, mit Holz, Blech und diversen Wrack- und Schrottteilen wieder intakt gesetzte Konstrukt, welches den Fluss überspannt. Als sie das schwer beschlagene Tor durchschreiten, thronen über ihren Köpfen die gepanzerten Türme der Ranger und die Wachen darin starren ausdruckslos zu ihnen hinab, während die Abenteurer Kurs auf die belebte Main Street nehmen.
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Zur gleichen Zeit beendet Gregory 'Greg' Tiberius Murphy ein langes Gespräch und verlässt das Red Horse, eine stadtbekannte Bar direkt auf der Main Street und inmitten des Main Market. Wie üblich sind hier viele Leute unterwegs, handeln, tauschen, feilschen. Unter ihnen immer wieder Ranger, die starke Präsenz zeigen und das Treiben im Auge behalten. Gregory hört die Straße runter einigen Tumult. Noch ist nichts zu erkennen, aber scheinbar kommt - was auch immer da gerade passiert - direkt die Main Street entlang und auf ihn zu…
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Im Hospital von Fort Worth wirft Sheela McNail einen kurzen Blick auf den Patienten und studiert nebenbei das Krankenblatt. Nach etwa 10 Sekunden ist alles geklärt und sie könnte sich eigentlich jede weitere Fragerei oder Untersuchung sparen. Der Anblick des dürren Mannes allein hätte ihr beinahe schon genügt, die auf dem Block erfassten Beschwerden und Symptome machen die Diagnose allerdings zu einem Kinderspiel: Leichte Strahlenerkrankung, wahrscheinlich durch den übermäßigen Genuss ungefilterten Flusswassers. Leider gibt es immer wieder genug Idioten, die nicht das Wasser aus der Filteranlage trinken, sondern sich selbst aus dem Fluss bedienen, oftmals, weil sie sich das gereinigte Wasser nicht leisten können oder wollen. Sheela jedenfalls ist gelangweilt. Es ist bereits der dritte Fall dieser Art heute und echte Höhepunkte lassen auf sich warten. Wie alle anderen, so benötigt auch dieser Patient lediglich eine Infusion Rad Away und sollte wenige Stunden danach bereits erste Besserungen verspüren. So wie der Knabe aussieht, stellt sich allerdings die Frage, ob er sich das Mittel überhaupt leisten kann, denn er macht einen recht schmuddeligen und verlausten Eindruck. Standardisierte Untersuchungen im Hospital sind zwar kostenlos, der Einsatz von Arznei oder intensivere Behandlungen (wie etwa operative Eingriffe) sind es jedoch nicht.
Nervös reibt sich der Mann mit dem verfilzten, blonden Haaren die Knöchel der rechten Hand und sieht die rothaarige Ärztin mit ungewissem Blick an. "Und Doktor? Was… ist es was… was Schlimmes?"
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Anderswo zuckelt ein klappriger Brahmin-Karren langsam die Houston Street entlang. Jordan Knight bewundert noch immer die für ihn gigantisch und fremd wirkende Stadt, welche er auf diesem Karren reitend vor wenigen Minuten zum erste Mal betreten hat. Fort Worth. Die Überreste einst riesiger Wolkenkratzer, die nun meist nur noch wenige Stockwerke hoch reichen, wechseln sich ab mit Neubauten aus Holz, Stein und Schrott. Letztere wollen manchmal so gar nicht zu der zerfallenen Schönheit der alten Vorkriegsgebäude passen. Alles wirkt auf ihn wild gemischt und durcheinander, sowohl die Umgebung, als auch die Leute, die sich hier tummeln. Wuseln wäre wohl der passendste Ausdruck, denn überall laufen sie umher, kommen aus allen Richtungen, verschwinden in alle Richtungen. Der Wagen kommt nur langsam vorwärts und gibt dem Jungen 'Rancher', wie man ihn hier wohl voller Verwunderung nennen würde, genug Zeit, diese neue Welt auf sich wirken zu lassen.
"Na, beeindruckt?", brummt die tiefe Stimme des dickbäuchigen Kutschers, der neben Jordan sitzt und gelassen die Zügel des Brahminbullen führt. "Sieht man deinem Gesicht an, Bursche. Fort Worth ist schon was anderes als diese ganzen Kuhkäffer draußen im Ödland, hm?! Hehe. Ja, hier spielt die Musik, das kann ich dir sagen! Wenn du was suchst, dann findest du es entweder hier oder nirgendwo! … Außer vielleicht in den verstrahlten Ruinen der Metropolen, aber da findest du gleichzeitig auch den Tod, nicht wahr?! Hehe."